Elisabeth, Ben und Jiréh haben uns in Gesprächen beschrieben, welche Schwierigkeiten, Möglichkeiten und Besonderheiten München für politisch aktive junge Menschen bereithält.
Elisabeth ist bei F4F aktiv, Ben bei verschiedenen Initiativen rund um Pandemiepolitik und Jiréh arbeitet an einer Kampagne zur Ächtung des N-Wortes. Die drei haben uns erklärt, wie sich ihre Arbeit in Coronazeiten verändert hat und ihre Sichtweisen auf die Auswirkungen der Pandemie beschrieben.
Die Situation vor Corona und die Veränderung durch Corona
München ist keine Stadt, in der Jugendkultur florieren kann wie in anderen deutschen Städten. Im letzten Artikel haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie trotzdem politisches Leben stattfindet und welche Bewegungen der letzten Jahre Münchens Jugend politisierten. Dieses politische Engagement hört auch in Pandemiezeiten nicht auf, vor allem verändert sich die Art der Organisierung.
Im privaten Alltag, genauso wie im politischen, sind die Auswirkungen der Pandemie deutlich spürbar. Gibt es diese Trennung überhaupt, haben wir Jiréh gefragt:
Nein. Ich komme aus meiner Haut nicht raus und ich kann nicht einfach von heute auf morgen sagen, Rassismus berührt mich nicht mehr privat, oder Diskriminierung berührt mich nicht mehr. Deswegen muss ich mich auch privat mit diesen Themen auseinandersetzen, genauso wie auch in meiner politischen Arbeit.”
Diese Untrennbarkeit des Privaten und Politischen wird von feministischer und antirassistischer Theorie bereits seit Jahren beschrieben.
Durch die Pandemie wird sie für alle Menschen eindeutig, denn selten zuvor haben politische Entscheidungen unseren privaten Alltag in Deutschland so sehr beeinflusst oder eingeschränkt, für die meisten Menschen war Freizeitgestaltung nie eine politisch relevante Frage.
Für Aktive bedeutet das, dass nunmehr nicht die Freizeit zur Politik wird, sondern die Politik zur Freizeit. Politische Arbeit, genauso wie private Kontakte, werden auf digitale Kommunikationswege verlegt und dort verbunden. Elisabeth beschreibt, wie das aussieht:
[Nach dem Online-Plenum] verbringen wir meistens noch viel Zeit im Chat und reden miteinander. Oft verabreden wir uns zum Videotelefonieren, auch wenn wir gar nichts gemeinsam arbeiten müssen, nur um nebeneinander her zu arbeiten. Wir versuchen dadurch die freundschaftliche Nähe und den Zusammenhalt aufrecht zu halten.”
Es ist also durchaus möglich, sich weiter zu organisieren und zu sozialisieren. Trotzdem gibt es für Aktivist:innen einige Probleme mit der Notwendigkeit von politischer Aktion im Zusammenhang mit der Pandemiesituation.
F4F brachte über fast zwei Jahre hinweg Zehntausende auf die Straßen und hat sich nicht nur in München, sondern auf der ganzen Welt ins Bewusstsein der Massen und auf die Titelseiten gestreikt. Jetzt steht die Bewegung vor dem Problem, dass diese Art der Aufmerksamkeit verloren geht und Menschen das Gefühl haben, F4F sei nicht mehr aktiv. Elisabeth dazu:
Unser Hauptdruckmittel, viele Menschen zu einem Schulstreik zu bewegen, funktioniert schlicht nicht mehr. In Coronazeiten bedeutet „viele“ nicht wirklich viele. […] Dadurch entsteht der Eindruck, wir wären nicht mehr aktiv, da in der Presse alternative Aktionsformen mit wenigen Menschen, wie Kunstaktionen, Lichtinstallationen, Banner oder Plakate, weniger wahrgenommen werden.”
Trotzdem hören wichtige Themen nicht einfach auf, wichtig zu sein und es müssen pandemiegerechte Wege gefunden werden, weiterhin im öffentlichen Raum präsent zu sein, so Ben:
Im Widerstand gegen Querdenken oder um die Situation in den refugee Camps zu thematisieren, besteht weiterhin die Notwendigkeit, auf die Straße zu gehen. […] Durch den Widerspruch, viele Leute an einem Ort im öffentlichen Raum zusammenzubringen, ergeben sich natürlich große Änderungen für die politische Strategie. [Die Frage ist also:] Welche anderen Kanäle politischer Einflussnahme findet man?
Spannend ist gerade, dass eine der zentralen Änderungen für mich durch Corona war, dass ich viel mehr Lobbyarbeit mache. Es ging vielmehr darum politische Entscheidungsträger mit einem Papier oder spezifischem Problem zu kontaktieren oder den Protest in den digitalen öffentlichen Raum zu tragen.”
Die Pandemie hat also zwei Protestformen, die vorher eher die Ausnahmen darstellten, in den Vordergrund gerückt: kleine künstlerische Aktionen mit wenigen Menschen und Aktionsformen, die ausschließlich im digitalen Raum stattfinden.
Die Organisation dieser Aktionsformen hat sich außerdem auch fast vollständig in den digitalen Raum verlegt, was bei immer geringeren Hürden für die Kommunikationsüberwachung von Einzelpersonen aus Datenschutzperspektive zumindest bedenklich ist.
Die Pandemie als ein politisches Thema und ihre Bearbeitung
Natürlich sind es nicht politisch aktive Menschen, die von der Pandemie hart getroffen werden. Denn für Menschen, die vor der Pandemie bereits marginalisiert wurden und oder in prekären Verhältnissen lebten, verschlimmert sich die Situation zunehmend. Ben beschreibt einige Problematiken:
Letztes Jahr wurde über die großen Pandemieausbrüche der Ernährungsmittelindustrie debattiert, die vor allem auf die schlechten hygienischen Bedingungen in den jeweiligen Berufen zurückzuführen waren. Dadurch wurden zum Glück die schlechten Arbeitsbedingungen thematisiert. Eine andere maßgebliche Sache, gegen die bereits lange gekämpft wird, sind die Sammelunterkünfte für Geflüchtete und refugee camps an den europäischen Außengrenzen.
Das Problem ist natürlich das Einpferchen von Menschen und Corona verschlimmert dieses allgemeine Problem. Kontakte zu reduzieren oder simple hygienische Maßnahmen umzusetzen, ist in dieser Wohnsituation einfach nicht möglich. Corona verschlimmert diese Probleme nicht unbedingt, aber es wird noch viel offensichtlicher, wie unmenschlich diese Arbeitsverhältnisse oder Lebensbedingungen sind.”
Jiréh spricht über die Erfahrungen, die seine Geschwister in der Schule machen und weist auf weitere Probleme hin:
Ich glaube, dass die Schulen mit dem digitalen Unterricht sehr hinterherhängen. Die Kids gehen teilweise komplett unvorbereitet in den online Unterricht. Es gab niemals Module, in denen das präventiv getestet wurde. Natürlich hat niemand diese Pandemie vorhersehen können, aber wir leben im Jahr 2021 und wir hängen mit der Digitalisierung weit hinterher und deswegen ist es jetzt diese große Aufgabe, das gut zu organisieren.
Außerdem haben nicht alle Schüler:innen Zugang zu adäquater Technik, sie können sich nicht angemessen auf den Unterricht vorbereiten oder gar nicht daran teilnehmen. Ich finde es schwierig, wenn ich höre, dass jemand von seinem Handy aus am Onlineunterricht teilnehmen muss und mir denke, dass jemand Privilegiertes vor seinem IMac sitzt.”
Ben nennt die Pandemie ein „Brennglas”, in dem sich bestehende soziale Ungleichheiten weiter zuspitzen. Trends, die wir in unzähligen Branchen seit Jahren feststellen können, wie Kurzarbeit, schlechter werdende Arbeitsbedingungen und Niedriglohn, teilweise unter der Armutsgrenze, werden durch die Pandemie noch problematischer für die Betroffenen.
Die Initiative, in der Ben aktiv ist, verbindet die Forderung nach einem intelligenten Umgang mit der Pandemie mit der Notwendigkeit, diese allgemeinen Problematiken zu adressieren.
Zero Covid will eine europäisch solidarische Herangehensweise an die Pandemie, die Reduktion der Neuinfektionen auf nahezu Null durch einen harten Lockdown, der auch am Arbeitsplatz durchgesetzt wird, in Verbindung mit einem bedingungslosen „Rettungspaket”.
Sammelunterkünfte für Obdachlose und Geflüchtete sollen aufgelöst, die soziale Gesundheitsinfrastruktur ausgebaut, Impfungen allgemein verfügbar gemacht werden. Und das soll alles durch eine spezielle „Covid-Solidaritätsabgabe” der Vermögenden bezahlt werden.
Die Kritik an diesem Vorschlag kommt vor allem aus der Wirtschaft, aber auch „linke oder bürgerliche” Zeitungen kritisieren den Vorschlag. So nennt die SZ die Forderungen beispielsweise „Kapitalismuskritik im Vorbeigehen” und „Wunschdenken”. Die TAZ wird häufig zitiert mit der Bezeichnung: „Halbtotalitäre Phantasie”.
Die Kritik, die von der SZ geübt wird, ist, dass die Vorschläge von Zero Covid nicht nur unrealisierbar und unausgereift sind, sondern vergleicht sie auch mit den Maßnahmen des autoritären Regimes in Venezuela und fragt sich, ob die Erstunterzeichner den Aufruf überhaupt gelesen haben.
Die TAZ schreibt: „Es hat immer etwas Religiöses, für ein hehres Ziel in der Ferne Entbehrungen im Heute in Kauf zu nehmen.” und nennt dann die Kinder der DDR als ein Beispiel für Menschen, die mit diesem fernen Ziel zum Mitmachen bewegt werden.
Wir haben Ben zu seinem Kommentar zu diesen Zitaten gefragt und er sagte uns:
Ich finds erst mal witzig, ist mein spontaner Kommentar. Zero Covid fordert nicht die Abschaffung des Kapitalismus, eigentlich fordern wir nur ein Minimalprogramm, was akut notwendig ist, um die Pandemie halbwegs menschenwürdig zu bearbeiten.
Wenn selbst dieses Minimalprogramm als unrealistisch oder undurchführbar erscheint, dann gibt es durchaus gute Gründe zu argumentieren, dass dem nur so ist, da wir eben in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, in der selbst ein Minimalprogramm an Solidarität nicht verwirklichbar ist.“
Zum Kommentar in der TAZ meinte er recht trocken:
Das finde ich tatsächlich lächerlich, ich bin eher irritiert darüber, wer inzwischen für die TAZ schreibt. […] Diese Wortwahl des Autors macht mir mehr Sorgen über die TAZ als über unsere Kampagne.”
Es ist offensichtlich, dass die Forderungen von Zero Covid sehr umstritten sind und dass sich sowohl Kritisierende als auch Befürworter:innen sich so schnell nicht einig werden. Wie Elisabeth sagt: „Ich glaube jeder hat zu den Coronamaßnahmen seine eigene Meinung.”
Die aktivistische Politik, genauso wie die Politik im größeren Rahmen oder unser Privatleben, werden gerade von Corona bestimmt und Lösungen für die offensichtlichen Probleme müssen gefunden werden. Dafür und für vieles andere setzen sich junge Menschen in München ein. Wie sie das getan haben und wie sie das gerade in Coronazeiten tun, hat sich sehr verändert, hat die Aktivist:innen verändert und hat München verändert.
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